Früher reiste man, um mehr zu werden. Gebildeter zum Beispiel, dann führte die Reise nach Athen oder Rom. Oder gesünder, dann war das Ziel eines der Thermalbäder. Eine Hochzeitsreise sollte möglichst zur Vermehrung führen. Heute reist man eher, weil man ein Land gesehen haben muss. „Was, du warst noch nicht in Myanmar? Dann beeile dich aber, bevor es zu spät ist.“ Wer etwas auf sich hält, reist meistens in Länder, in denen vor zehn Jahren noch keiner, vor zwei Jahren aber fast alle waren. Was wird das nächste solche Ziel sein? Der Irak? Oder Afghanistan? Eine Fernreise sollte es schon sein, nur die großen Flugmeilensammler suchen oft stille Orte in ihrer Nähe auf, Almhütten und Schweigeklöster. Deutsch ist es, etwa in die Dominikanischen Republik zu fahren, um dort keine Landsleute zu treffen, und sich zu ärgern, wenn sie doch da sind. Noch deutscher ist es, in Italien mit starkem Akzent italienisch zu sprechen, um von Deutschen nicht als Deutscher erkannt zu werden. Das Hotelpersonal im Mittelmeerraum lernt in Winterkursen, dass man Deutsche glücklich macht, wenn man vorgibt, sie für Einheimische zu halten. Wieso das so ist, versteht im Mittelmeerraum keiner. Fehlt dem deutschen Touristen ein wichtiges Wort und er sagt zum Beispiel: „Io voglio Sonnencreme“ wird er dafür gelobt, dass er für einen Italiener eine unglaublich gute deutsche Aussprache hat. Aber ich wollte gar nicht über deutsche Touristen schreiben, sondern über den altmodischen Reisenden, der von seiner Reise mit einem Schatz zurückkehren möchte, den es nicht im Andenkenladen oder Duty free-Shop gibt. Während meines ersten Italienaufenthalts ohne Eltern hatte ich die „Piazza“ entdeckt. Ich hatte Männer gesehen, die sich zu einer bestimmten Stunde auf dem Dorfplatz einfanden, um über Fußball oder Politik zu sprechen. Das fand ich faszinierend demokratisch und probierte es gleich nach meiner Rückkehr auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof aus. Nach zehn Minuten wurden mir Prügel angedroht, nach zwanzig Minuten bekam ich von der Polizei einen Platzverweis. Nicht alles, was man stolz aus der Fremde nach Hause trägt, bleibt dort als Schatz.
Ich bin meine Reise nahezu ohne Erwartungen angetreten. Ich hatte mir nur vorgenommen, kein Tourist zu sein. Ich hätte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zwischen Olbia und Cagliari abgrasen können – ein Auto hatte ich dabei – stattdessen habe ich mich auf die Orte in der Umgebung konzentriert: Orani, Orgosolo, Pratobello, Fonni, Mamoiada, Ovodda. Zur Schafschur war ich in Borore. Außer dem üblichen fragmentarischen Bildungsgut (ein paar Romane, Filme, einige Geschichtsdaten) hatte ich keine Ahnung von Sardinien. Und noch weniger von der Barbagia oder gar Gavoi. Aber ich war bereit, etwas mit mir geschehen lassen in diesem Ort, der erst so einen fremden Klang hatte: Gavoi, wie ein Ausruf des Staunens. Es hätte schrecklich werden können, schrecklich langweilig oder schrecklich einsam. Es hätte zu kulturellen Missverständnissen kommen können, zu Enttäuschungen und Verwicklungen. Susanne Höhn vom Goethe-Institut in Rom, die mich auf die Reise geschickt hat, war meine einzige Versicherung. Sie kannte mich, kannte Gavoi und meinte, dass es schon gut gehen würde. Sie hatte recht und ich bewundere sie für ihr Gespür. Auf einer geglückten Reise, findet der Reisende Dinge, die er in der Heimat nicht hätte entdecken können. Etwas in ihm gerät in Schwingung, von dem er zuvor höchstens eine Ahnung hatte. Manchmal möchte er dann nicht mehr so leben wie zuvor. Fast immer bleibt es bei diesem Vorsatz.
Welche Schätze habe ich mit nach Hause gebracht? Die Geschichten natürlich, die noch längst nicht alle erzählt sind, obwohl sich meine Gedanken und mein Reden wie bei einem Süchtigen ständig um Gavoi drehen. Und dann die Irritation über gewisse Formen hiesigen Zusammenlebens, die ich bis vor wenigen Wochen wie Setzungen eines Theaterstücks hingenommen habe. Auf der Fähre von Olbia nach Livorno höre ich, wie eine offensichtlich nicht notleidende deutsche Dame ihre Freundin auffordert, ihr 2,50 € für einen Cappuccino zu geben, die sie ihr noch schulde. Angesichts der grenzenlosen Großzügigkeit in der „armen Barbagia“ schäme ich mich und frage mich, wieso wir uns im „reichen Deutschland“ vom Geld derart in Geiselhaft nehmen lassen. Wieso wir nicht lernen, das Geben zu genießen, anstatt mit dem ständigen Unbehagen zu leben, dass jemand uns oder wir jemandem etwas schulden. Das ist nur ein Beispiel. Ich merke auch, wie ich mich kaum zurück sofort wieder im Privaten einigle, nachdem ich es in Gavoi so genossen habe, Teil einer Gemeinschaft geworden zu sein. Ich tröste mich damit, dass es meiner Produktivität sicherlich nicht schadet, wenn ich nicht jeden Mittag und Abend in die Bar gehe. Offenbar komme ich langsam wieder in meinem alten Leben an. Der wichtigste Schatz aber, den ich aus Gavoi mitgenommen habe, sind die Freundschaften, die in dieser unfassbar intensiven Zeit entstanden sind. Ich bin mir sicher, sie werden in meinem Leben noch für manche positive Irritation sorgen. Nicht nur deswegen werde ich sie pflegen. Grazie, Gavoi!