Stolpersteine

Tobias Wimbauers Blog

Vor gut einem Jahr war ich an einem sonnigen Apriltag in Alsfeld in Hessen. Die Zeit zwischen Hotelfrühstück und Beginn des Festivals, zu dem ich angereist war, nutzte ich für einen Gang durch die Stadt. Ich trank einen Kaffee und freute mich an der schönen Altstadt. Dann sah ich hier einen goldfarbenen Stein im Pflaster, dort einen und da den nächsten. Einer neben dem andern. Auf jedem der Name eines Deportierten und Ermordeten, der in dem Haus bei dem Stolperstein gelebt hatte. Und dabei wurde mir so greifbar bewusst, wie allgegenwärtig der Schrecken war und wie grosszügig das im Alltag verdrängt ist.

Dieses Bewusstsein kam schlagartig. Wie das sonst kein abstraktes Denkmal geschafft hätte. Das war kein Guido-Knopp-Schwarzweiss-Film, keine sepiagefärbte Dokumentation. Die Fachwerkhäuser sahen 1933 ff. ganz genau so aus wie heute, das Strassenpflaster sah 1933 ff. ganz genau so aus wie heute. Und der Himmel wird so blau gewesen…

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(Noch) nicht erzählt 3

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(Noch) nicht erzählt 2

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(Noch) nicht erzählt 1

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Das Letzte

Das letzte Mal von einem Bett aufstehen, in dem ein Leintuch als Decke genügt.

Das letzte Mal in der Bar nicht wissen, ob die Cornetti mit Creme gefüllt sind oder Schokolade.

Das letzte Mal die bewundern, die es weiß, obwohl man es nicht sieht.

Das letzte Mal das „Sisisi“ der Mauersegler hören.

Das letzte Mal das Haus aus Granit an der Via Eleonora betreten, die alte Feuchtigkeit riechen, die aus dem Untergeschoss aufsteigt, den Staub der Bücher und den Muskatgeruch der Geranien, von dem es heißt, dass er die Mücken vertreibt.

Das letzte Mal mit der Signora in den Gemüsegarten gehen.

Die letzte vom Strauch gepflückte Himbeere.

Das letzte Mal die Palme sehen, die es hier nicht geben dürfte.

Das letzte Mal die Fugen zwischen den Steinplatten der Gasse durch die Sohlen spüren.

Das letzte Mal über das angeblich von Hirten ererbte Geschrei erschrecken.

Das letzte Mal „Ciao“ sagen und „Salve“ zur Antwort bekommen und „Salve“ sagen und „Salute“ hören und sich fragen, ob es bei diesem Spiel um Korrektur geht oder um Abwechslung.

Die letzte Ricotta aus Schafsmilch, dazu papierdünnes Brot, siebzehn Monate lang gereiften Käse (warum genau siebzehn?) und viel zu süffigen Wein.

Das letzte Mal die Glocken hören und die Melodie die tönt: du warst richtig hier.

Das letzte Mal angestupst werden, damit man auch wirklich versteht.

Das letzte Mal dem Blick begegnen, der sagt, du bist mein Freund, du darfst dich hier sicher fühlen.

Das letzte Mal die Männer, die weinen, und die Frauen, die mit deftigen Scherzen das Melodram zum Abschied verhindern.

Das letzte Mal jetzt – doch bestimmt nicht für immer 

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Schätze

Früher reiste man, um mehr zu werden. Gebildeter zum Beispiel, dann führte die Reise nach Athen oder Rom. Oder gesünder, dann war das Ziel eines der Thermalbäder. Eine Hochzeitsreise sollte möglichst zur Vermehrung führen. Heute reist man eher, weil man ein Land gesehen haben muss. „Was, du warst noch nicht in Myanmar? Dann beeile dich aber, bevor es zu spät ist.“ Wer etwas auf sich hält, reist meistens in Länder, in denen vor zehn Jahren noch keiner, vor zwei Jahren aber fast alle waren. Was wird das nächste solche Ziel sein? Der Irak? Oder Afghanistan? Eine Fernreise sollte es schon sein, nur die großen Flugmeilensammler suchen oft stille Orte in ihrer Nähe auf, Almhütten und Schweigeklöster. Deutsch ist es, etwa in die Dominikanischen Republik zu fahren, um dort keine Landsleute zu treffen, und sich zu ärgern, wenn sie doch da sind. Noch deutscher ist es, in Italien mit starkem Akzent italienisch zu sprechen, um von Deutschen nicht als Deutscher erkannt zu werden. Das Hotelpersonal im Mittelmeerraum lernt in Winterkursen, dass man Deutsche glücklich macht, wenn man vorgibt, sie für Einheimische zu halten. Wieso das so ist, versteht im Mittelmeerraum keiner. Fehlt dem deutschen Touristen ein wichtiges Wort und er sagt zum Beispiel: „Io voglio Sonnencreme“ wird er dafür gelobt, dass er für einen Italiener eine unglaublich gute deutsche Aussprache hat. Aber ich wollte gar nicht über deutsche Touristen schreiben, sondern über den altmodischen Reisenden, der von seiner Reise mit einem Schatz zurückkehren möchte, den es nicht im Andenkenladen oder Duty free-Shop gibt. Während meines ersten Italienaufenthalts ohne Eltern hatte ich die „Piazza“ entdeckt. Ich hatte Männer gesehen, die sich zu einer bestimmten Stunde auf dem Dorfplatz einfanden, um über Fußball oder Politik zu sprechen. Das fand ich faszinierend demokratisch und probierte es gleich nach meiner Rückkehr auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof aus. Nach zehn Minuten wurden mir Prügel angedroht, nach zwanzig Minuten bekam ich von der Polizei einen Platzverweis. Nicht alles, was man stolz aus der Fremde nach Hause trägt, bleibt dort als Schatz.

 

Ich bin meine Reise nahezu ohne Erwartungen angetreten. Ich hatte mir nur vorgenommen, kein Tourist zu sein. Ich hätte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zwischen Olbia und Cagliari abgrasen können – ein Auto hatte ich dabei – stattdessen habe ich mich auf die Orte in der Umgebung konzentriert: Orani, Orgosolo, Pratobello, Fonni, Mamoiada, Ovodda. Zur Schafschur war ich in Borore. Außer dem üblichen fragmentarischen Bildungsgut (ein paar Romane, Filme, einige Geschichtsdaten) hatte ich keine Ahnung von Sardinien. Und noch weniger von der Barbagia oder gar Gavoi. Aber ich war bereit, etwas mit mir geschehen lassen in diesem Ort, der erst so einen fremden Klang hatte: Gavoi, wie ein Ausruf des Staunens. Es hätte schrecklich werden können, schrecklich langweilig oder schrecklich einsam. Es hätte zu kulturellen Missverständnissen kommen können, zu Enttäuschungen und Verwicklungen. Susanne Höhn vom Goethe-Institut in Rom, die mich auf die Reise geschickt hat, war meine einzige Versicherung. Sie kannte mich, kannte Gavoi und meinte, dass es schon gut gehen würde. Sie hatte recht und ich bewundere sie für ihr Gespür. Auf einer geglückten Reise, findet der Reisende Dinge, die er in der Heimat nicht hätte entdecken können. Etwas in ihm gerät in Schwingung, von dem er zuvor höchstens eine Ahnung hatte. Manchmal möchte er dann nicht mehr so leben wie zuvor. Fast immer bleibt es bei diesem Vorsatz.

 

Welche Schätze habe ich mit nach Hause gebracht? Die Geschichten natürlich, die noch längst nicht alle erzählt sind, obwohl sich meine Gedanken und mein Reden wie bei einem Süchtigen ständig um Gavoi drehen. Und dann die Irritation über gewisse Formen hiesigen Zusammenlebens, die ich bis vor wenigen Wochen wie Setzungen eines Theaterstücks hingenommen habe. Auf der Fähre von Olbia nach Livorno höre ich, wie eine offensichtlich nicht notleidende deutsche Dame ihre Freundin auffordert, ihr 2,50 € für einen Cappuccino zu geben, die sie ihr noch schulde. Angesichts der grenzenlosen Großzügigkeit in der „armen Barbagia“ schäme ich mich und frage mich, wieso wir uns im „reichen Deutschland“ vom Geld derart in Geiselhaft nehmen lassen. Wieso wir nicht lernen, das Geben zu genießen, anstatt mit dem ständigen Unbehagen zu leben, dass jemand uns oder wir jemandem etwas schulden. Das ist nur ein Beispiel. Ich merke auch, wie ich mich kaum zurück sofort wieder im Privaten einigle, nachdem ich es in Gavoi so genossen habe, Teil einer Gemeinschaft geworden zu sein. Ich tröste mich damit, dass es meiner Produktivität sicherlich nicht schadet, wenn ich nicht jeden Mittag und Abend in die Bar gehe. Offenbar komme ich langsam wieder in meinem alten Leben an. Der wichtigste Schatz aber, den ich aus Gavoi mitgenommen habe, sind die Freundschaften, die in dieser unfassbar intensiven Zeit entstanden sind. Ich bin mir sicher, sie werden in meinem Leben noch für manche positive Irritation sorgen. Nicht nur deswegen werde ich sie pflegen. Grazie, Gavoi!

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„Mein Balkon“

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Aufbau Kinderfestival

Aufbau Kinderfestival

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Sant Antioco

Sant Antioco

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Eine Insel auf der Insel

Ich habe es nicht geglaubt. Ein so kleines Dorf soll ein so großes Literatur-Festival auf die Beine stellen? Und das mitten in der Finanzkrise, in der aus der Raubritter-Kaste übrig gebliebene Provinzpolitiker am liebsten an der Kultur sparen. Vor allem, wenn diese sich auch noch aufmüpfig äußert. Das geht auch rein logistisch nicht, habe ich mir gedacht. Wo sollen denn die vielen Gäste, die aus ganz Sardinien und vom Festland kommen, übernachten? Wie sollen sie verpflegt werden, wo sollen sie auf die Toilette gehen, wo ihre Autos parken? Öfter hatten meine neuen Freunde von Zehntausenden gesprochen, die bald eintreffen würden. Ich habe das für eine Phantasiezahl gehalten, obwohl ich die Gavoesi nicht als Menschen kennengelernt hatte, die zur Übertreibung neigen – im Gegenteil. Ich habe damit gerechnet, dass falls wirklich so viele Besucher kommen, das Chaos ausbrechen wird. So galt mein Lampenfieber weniger meinem bevorstehenden Auftritt als dem Organisationsteam. Am Tag der Festival-Eröffnung standen plötzlich überall in den Gassen lange Tische und Bänke, Tore und Fenster öffneten sich für kleine, improvisierte Imbissstände. Aus Privathäusern wurden unkompliziert Übernachtungsquartiere, hunderte von Jugendlichen in roten T-Shirts mit dem Emblem „Isola delle storie“ lenkten freundlich die Besucherströme. Alles geschah so unaufdringlich und reibungslos, dass man die große logistische Leistung dahinter kaum wahrnahm. Die Technik funktionierte, der Zeitplan wurde akkurat eingehalten, wäre da nicht die Hitze gewesen, die sich der Körpertemperatur annäherte, hätte man sich auf einer von Schweizern organisierten Veranstaltung wähnen können. Am Freitagmorgen durfte ich das Programm mit einem Gespräch mit Michael Braun, dem Italienkorrespondenten der „taz“, eröffnen. Wir unterhielten uns auf dem Balkon einer historischen Villa über meine Zeit als „Writer in Residence“. Mein Ziel war es, mit meinen Schilderungen und Gedanken über Gavoi den Zuhörern auf der vor uns liegenden Piazza ein wenig von dem zurückzugeben, was ich während der fünf Wochen meines Aufenthalts an Gastfreundschaft, Großzügigkeit und Offenheit erfahren hatte. Aber „Isola delle Storie“ ist kein Festival, auf dem die Harmonie zelebriert wird. Es soll auch richtig zur Sache gehen, in meinem Fall beim Thema „katholische Kirche und Missbrauch“. Prompt meldete sich ein Priester zu Wort, um Schuld zu relativieren und mit dem Finger auf andere zu deuten. Damit hat er sich nicht beliebt gemacht. Eine Stunde später saß ich als Zuhörer neben dem weißen Kirchlein Sant Antioco. Eine Runde mit Meinhard Miegel als deutschem Vertreter sprach über den Wachstumswahn, über das, was der Mensch jenseits der Bedürfnisse, die ihm suggeriert werden, wirklich benötigt, und was eigentlich menschliches Glück ist. Zu jeder solchen Veranstaltung kamen über tausend Menschen, um höchst konzentriert und hinterher oft leidenschaftlich diskutierend teilzunehmen. Da war es wieder, das Italien, in das ich mich vor über dreißig Jahren so verliebt und von dem ich mich während der Ära Berlusconi so verraten gefühlt hatte. Plötzlich hatte ich auf dieser Geschichten- und Denkinsel am Rande der globalisierten Welt die verrückte Hoffnung, Ideen und Worte könnten doch noch etwas bewirken. Das war mein Glück.

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